- Sade
- Sade[sad], Donatien Alphonse François Marquis de, französischer Schriftsteller, * Paris 2. 6. 1740, ✝ Saint-Maurice (Département Val-de-Marne) 2. 12. 1814; aus altem provenzalischen Adel, Kavallerieoffizier, war 27 Jahre in Haft, zunächst wegen Sittlichkeitsdelikten, 1793/94 wegen angeblicher Revolutionsfeindlichkeit, dann ab 1803 in der Irrenanstalt von Charenton (heute zu Saint-Maurice) wegen seiner im Gefängnis verfassten Schriften.Sade schrieb neben zahlreichen Theaterstücken v. a. philosophische Romane und Erzählungen, in denen die genaue Beschreibung aller nur vorstellbaren sexuellen Ausschweifungen und Grausamkeiten mit ausführlichen Erörterungen zur materialistischen Naturphilosophie in der Tradition von P. H. T. d'Holbach abwechseln. In seinem Hauptwerk »La Nouvelle Justine« (10 Bände, 1797, zusammen mit »Histoire de Juliette, sa sœur«) widerlegt Sade durch die Romanhandlung, die stets den Triumph des Lasters und die Schändung der Tugend mit den Mitteln des Schauerromans in Szene setzt, den Glauben an eine göttliche Vorsehung, parodiert J.-J. Rousseaus Ideal der Empfindsamkeit und rechtfertigt die Macht des Bösen als Naturgewalt, die paradoxerweise gerade auf die Zerstörung der Natur abzielt. Wegen seines Amoralismus wurde Sade schon von Zeitgenossen wie L. S. de Mercier und N. Restif de la Bretonne scharf angegriffen; im 19. Jahrhundert wurde sein Werk offiziell totgeschwiegen oder als bloße Illustration psychopathologischer Verirrungen abgetan. Dagegen schätzten etwa C. Baudelaire und G. Flaubert bei Sade die schonungslose Analyse menschlicher Bosheit, die Autoren des Fin de Siècle (u. a. J.-K. Huysmans, O. Wilde) ließen sich von dem Werk faszinieren. Im 20. Jahrhundert rehabilitierten die Surrealisten Sades schwarzen Humor und erotische Fantasie; seine geistesgeschichtliche Bedeutung, die auf der radikalen Entmythologisierung aller abendländischen Tabus beruht, wurde erst von M. Horkheimer, T. Adorno und G. Bataille erkannt. Die ästhetische Qualität des Werks würdigte v. a. die Gruppe »Tel Quel« (u. a. R. Barthes und P. Sollers).Weitere Werke: Romane: Les 120 journées de Sodome (entstanden 1785, herausgegeben 1904, Fragment; deutsch Die hundertzwanzig Tage von Sodom, 2 Bände); Justine, ou les malheurs de la vertu, 2 Bände (1791; deutsch Die Geschichte der Justine oder die Nachteile der Tugend); Aline et Valcour, 4 Bände (1795; deutsch Aline und Valcour); La marquise de Gange (1813; deutsch Die Marquise de Gange).Dialoge: Dialogue entre un prêtre et un moribond (entstanden 1782, herausgegeben 1926); La philosophie dans le boudoir, 2 Bände (1795; deutsch Die Philosophie im Boudoir. ..).Erzählung: Les infortunes de la vertu (entstanden 1787, herausgegeben 1930; deutsch Das Mißgeschick der Tugend).Novellen: Les crimes de l'amour (1800; deutsch Verbrechen der Liebe).Ausgaben: Le théâtre (1970); Œuvres complètes. Édition définitive, herausgegeben von G. Lely, 16 Bände (Neuausgabe 1973); Lettres et mélanges littéraires écrits à Vincennes et à la Bastille, herausgegeben von G. Daumas u. a. (1980); Lettres inédites et documents, herausgegeben von J.-L. Debauve (1990); Œuvres, herausgegeben von M. Delon, auf mehrere Bände berechnet (1990 folgende).Ausgewählte Werke, 6 Bände (Neuausgabe 1972); Der Greis in Charenton. Letzte Aufzeichnungen und Kalkulationen (1990).M. Blanchot: S. (a. d. Frz., Berlin-Ost 1963);Das Denken von S., hg. v. Tel Quel (a. d. Frz., 1969);G. Lely: Vie du marquis de S. (Neuausg. Paris 1982);S. Écrire la crise, hg. v. M. Camus u. a. (ebd. 1983);H.-U. Seifert: S. Leser u. Autor. Quellenstudien, Komm. u. Interpretationen zu Romanen u. Romantheorie von D. A. F. de S. (1983);J.-J. Pauvert: Der göttl. Marquis, 2 Bde. (a. d. Frz., 1991);W. Lennig: Marquis de S. (34.-36. Tsd. 1992);M. Lever: Marquis de S. Die Biogr. (a. d. Frz., Wien 1995).
Universal-Lexikon. 2012.